Das Meer
von Osamu Dazai

Als wir in Mitaka in Tokio wohnten, schlugen die Bomben beinahe täglich in der Nachbarschaft ein. Mich hätte es nicht gekümmert, wenn ich gestorben wäre. Aber der Gedanke, dass mein Kind, sollte eine Bombe über ihm abgeworfen werden, aus dem Leben scheiden könnte, ohne je das Meer gesehen zu haben, war mir unerträglich. Ich wurde in der Tsugaru-Ebene geboren und bin auch dort aufgewachsen. Das Meer sah ich erst spät in meinem Leben, das erste Mal, als ich zehn Jahre alt war. Die tiefe Erregung, die ich da spürte, ist mir bis heute eines der teuersten Andenken in meinem Lebens. Einmal wenigstens wollte ich auch meinem Kind das Meer zeigen.

Fünf Jahre alt war meine Tochter, als eine Bombe schließlich unser Haus in Mitaka zerstörte; wir blieben unverletzt. Wir zogen nun nach Kofu, dem Heimatort meiner Frau, aber auch Kofu wurde kurz darauf Ziel feindlicher Angriffe und das Haus, in dem wir wohnten, brannte nieder. Aber die Angriffe hielten weiter an. Ich musste mit Frau und Kind weiterziehen, in meinen Geburtsort, den letzten der uns zugänglichen Zufluchtsorte. Wir brachen in Richtung meines Elternhauses in Tsugaru auf. Drei Tage und Nächte waren wir unterwegs, bevor wir Higashi-Noshiro in der Präfektur Akita erreichten, und erst, als wir dort in einen Zug der Goro-Linie wechselten, fühlte ich endlich einen Moment der Erleichterung.

“Das Meer, guter Mann, auf welcher Seite kann man das Meer sehen?”, erkundigte ich mich umgehend beim Schaffner. Die Gono-Linie fuehrte dicht an der Küste entlang, und wir setzten uns auf der Seite des Waggons nieder, die zum Meer zeigte.
“Von hier aus können wir aufs Meer hinausschauen. Gleich ist es soweit, gleich siehst du das Meer, in dem einst Urashima Taro fischte”, begeisterte ich mich.
“Da, schau! Das Meer, sieh doch, da ist das Meer. Siehst du, wie groß es ist?”
Endlich hatte ich es geschafft, meinem Kind das Meer zu zeigen.
“Schau, Mama, der Fluss”, sagte es nur unbeeindruckt.
“Ein Fluss?” Ich war entsetzt.
“Ah, ja, schöner Fluss”, antwortete meine Frau halb im Schlaf versunken.
“Das ist doch kein Fluss, das ist das Meer. Ein gewaltiger Unterschied! Wie kann man das nur einen Fluss nennen?”
Doch ich behielt meinen zwecklosen Protest für mich und starrte hinaus; in die Dämmerung, auf das Meer.

 

(Übersetzung Robert Zetzsche, 2017)